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Die ungarische Revolution 1956

Vor 50 Jahren: Ein Aufstand für den Sozialismus und gegen die stalinistische Bürokratie

Die Ereignisse, die vor 50 Jahren in der Volksrepublik Ungarn stattfanden, werden sehr verschieden bewertet. Für die Einen war die Massenbewegung ein faschistischer Putschversuch, für die Anderen ein demokratischer Aufstand des ungarischen Volkes gegen die kommunistische Schreckensherrschaft. Was passierte damals überhaupt?

Die Ausgangslage

Nach der Befreiung Ungarns vom Faschismus durch die Rote Armee 1944 wurde die Volksrepublik Ungarn gegründet. Durch die „scheibchenweise“ Ausschaltung aller etwaigen politischen Gegner wurde sie unter „Stalins bester Schüler“ Matyas Rakosi zu einem vollständigen Vasallenstaat der sowjetischen Bürokratie.

Die ungarische Staatssicherheit AVH wachte über das stalinistische Regime mit schier irrationalem Terror.

Die Schwerindustrie wurde mit aller Kraft aufgebaut, Konsumgüter waren Nebensache. Prestigeprojekte der Bürokratie, wurden durchgeführt, auch wenn sie völlig unsinnig waren, wie der Aufbau des riesigen Industriezentums Stalinvaros, fernab von den nötigen Rohstoffen. Alles Russische wurde in höchsten Tönen gelobt während die Handelsverträge mit der Sowjet­­union die VR Ungarn finanziell fast ruinierten.

Die ArbeiterInnen hatten die Zeche zu zahlen: Sie durften „freiwillige“ Sonderschichten schieben, zu allen möglichen Anlässen; durften „freiwillige“ Friedensanleihen kaufen, zum Wohle der Volksrepublik; und durften den sich ständig erhöhenden Normen hinterherarbeiten. Die Preise erhöhten sich vier Mal so schnell wie die Löhne.

Auf dem 20. Parteitag der KP der Sowjetunion im Frühjahr 1956 machte Nikita Chrustschow den Personenkult um Stalin allein für den stalinistischen Terror verantwortlich um den „Marxismus-Leninismus“ (in Wirklichkeit: Stalinismus) von jeder Schuld freizusprechen. Der Bruch mit dem toten Stalin führte besonders in Ungarn zu einer förmlichen Explosion der politischen Debatte. Diskussionszirkel redeten öffentlich über Themen wie Redefreiheit, AVH-Terror und Demokratie. Große Demonstrationen fanden statt. Die Protestbewegung schwoll immer stärker an.

Die herrschende Bürokratie stritt sich um die Frage, wie man reagieren sollte: kleine Zugeständnisse oder massive Repression? Der „Kompromiss“ war, dass der verhasste Matyas Rakosi von der Spitze der Partei abtrat und Ernö Gerö Platz machte – der war jedoch vorher die Rechte Hand Rakosis gewesen. So tat der „Wechsel“ an der Spitze den Protesten keinen Abbruch, und die StudentInnen der Budapester Polytechnischen Universität organisierten zum 23. Oktober eine Demonstration.

Der Startschuss

Der Demonstration schlossen sich auch große Massen von ArbeiterInnenn an und so schoben sich Zehntausende durch die Straßen Budapests. Die DemonstrantInnen machten vor dem Parlamentsgebäude halt. Dort verlangten die nach Imre Nagy.

Imre Nagy war die Gallionsfigur des Reformer-Flügels der Bürokratie. Nach dem Tod Stalins war er von 1953-1955 Ministerpräsident gewesen und hatte zaghafte Reformen eingeleitet. Nachdem aber von Berlin bis Bukarest Arbeiteraufstände ausgebrochen waren, hatte Moskau beschlossen, die Reformen wieder sein zu lassen. Die Hardliner kamen wieder ans Ruder, Nagy wurde als „rechter Abweichler“ abgesetzt und aus der Partei ausgeschlossen. Erst im Zuge der 1956er Protestbewegung war Nagy rehabilitiert worden.

der beliebte „Vater der Völker“ Stalin mit eingeschlagener Fresse

Am 23. Oktober erschien er dann nach langem Zögern auf dem Balkon des Parlamentsgebäudes und hielt eine eher schlechte Rede, in der er die Masse aufrief nach Hause zu gehen, „eine gute Lösung“ würde „in Verhandlungen gefunden werden“. Doch das konnte die Massen schon lange nicht mehr beschwichtigen. Ein Teil der Demonstration war bereits zum Stalin-Denkmal gezogen, wo ArbeiterInnen darangingenm sie zu fällen. Ein anderer Teil versuchte ins Rundfunkhaus zu kommen um das 16-Punkte-Programm senden zu lassen, dass die StudentInnen beschlossen hatten. Es umfasste Reformforderungen, wie das Streikrecht, die Redefreiheit, eine Angleichung der Löhne und die Regierungsumbildung unter Nagy.

Dann passierte es: AVH-Leute schossen auf die eindringenden DemonstrantInnen. Die Polizisten solidarisierten sich daraufhin mit den Angegriffenen und teilten Waffen aus; das Rundfunkgebäude wurde gestürmt, alle mutmaßlichen AVH-Leute wurden gnadenlos umgebracht. Der Aufstand war losgetreten, die Massen eroberten nach und nach alle öffentlichen Gebäude.

Dann erst reagierte die Bürokratie: Nagy wurde als Ministerpräsident ausgerufen und insgeheim bat man Moskau um Hilfe. Die kam dann auch. Am 24. Oktober rückten die Panzer der Sowjetarmee in Budapest ein. Sie bekamen es mit dem bewaffneten Volk zu tun, das den Straßenkampf gegen die Invasoren so erfolgreich aufnahm, dass diese sich schließlich zum Rückzug gezwungen sahen.

Die ArbeiterInnen

Nachdem die Reformbewegung von Intellektuellen getragen worden war, hatte die Stunde der ArbeiterInnen geschlagen. Über 80% der im Kampf Verwundeten waren junge ArbeiterInnen aus den Vorstädten. Sie hatten den Kampf als den ihren begriffen.

Die ArbeiterInnen traten der herrschenden bürokratischen Kaste nicht nur in den Straßen Budapests entgegen. Überall im Land bildeten sie Arbeiterräte, die die Regierungsdirektoren entmachteten und die Kontrolle über das öffentliche Leben übernahmen. Die ArbeiterInnen fegten praktisch über Nacht fast die gesamte Bürokratie und ihre Partei hinweg. Der Groß-Budapester Arbeiterrat erhob sich als neues Machtorgan der Klasse.

Die Regierung der Volksrepublik Ungarn unter Nagy war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Und dennoch war sie die mächtigste Waffe der Bürokratie gegen die Revolution. Nagy stellte sich während, v.a. nach der Invasion als Unterstützer der Aufständischen dar. Er nannte den Aufstand „eine großartige nationale und demokratische Bewegung“, er löste die AVH offiziell auf, bildete schließlich eine Koalitions-Regierung mit neu entstandenen Parteien und versuchte aber zugleich den Aufstand zu sabotieren. Er versprach eine Amnestie für alle, die ihre Waffen abgäben, er trat in Verhandlungen mit dem Groß-Budapester Arbeiterrat und erreichte, dass dieser seine Regierung nicht nur unterstützte, sondern auch die ArbeiterInnen aufrief, bis zum 5. November zur Arbeit zurückzukehren.

Während in den ersten Tagen des Novembers die Sowjetarmee frische Truppen in Angriffsposition brachte, betrieb er weiter die Demobilisierung des Aufstandes und gab schließlich der Moskauer Führung die Steilvorlage für ihr Losschlagen, indem er die Neutralität der VR Ungarn und ihren Austritt aus dem Warschauer Pakt erklärte.

Die Konterrevolution

Am 4. November startete in ganz Ungarn die zweite Invasion der Sowjetarmee. Um 4 Uhr morgens begann die Bombardierung der umzingelten Hauptstadt Budapest. Im Morgengrauen zogen die sowjetischen Verbände in die Stadt ein. Die Massen bäumten sich ein letztes Mal zum größtmöglichen Widerstand auf, doch diese zweite Offensive war sorgfältiger vorbereitet worden als die erste.

Um die Verbrüderung der Sowjetsoldaten mit den Aufständischen, die bei der ersten Attacke recht oft vorgekommen war, entgegenzuwirken, wurde so gut wie keine Infanterie eingesetzt. Auch waren viele der Soldaten, die nun kämpften, aus dem sowjetischen Hinterland nach Ungarn verlegt worden, um sprachliche Verständigung völlig auszuschließen. Trotzdem wurde noch zusätzlich mit Erschießung der eigenen Soldaten darauf geachtet, das z.B. Panzerführer, die im Angesicht von widerständischen Frauen, Kindern und Alten an der Version des „faschistischen Aufstandes“ zu zweifeln begannen, ihren Auftrag genauestens durchführten und gegebenenfalls auch unbewaffnete DemonstrantInnen niedermachten.

Der geballten Macht der zweiten Offensive hatten die KämpferInnen letztendlich nichts entgegenzusetzen. Nach und nach wurden die Städte Ungarns, wurde Budapest von den sowjetischen Truppen eingenommen.

Nagy war mit seiner Regierung geflohen (er sollte später verurteilt und hingerichtet werden) und die Armee des Kremls brachte eine neue „revolutionäre Arbeiter- und Bauernregierung“ mit: Die Regierung unter Janos Kadar.

Das Ende der Räte

Kadar war eigentlich selbst Reformer und Nagy-Verbündeter gewesen, war am 1. November jedoch entführt und vom Kreml dazu auserkoren worden, nach der 2. Invasion die alte Ordnung wieder herzustellen. Das hieß in erster Linie: Die Entmachtung der Arbeiterräte.

Die waren noch da und Kadar wagte selbst nach der militärischen Niederschlagung des Aufstandes nicht, sie gewaltsam aufzulösen. Er bezog sich öffentlich positiv auf den Aufstand, aus der seine Regierung hervorgegangen wäre. Zugleich versuchte er die Macht der Organe der Aufständischen zu brechen. So ließ er die Ausgaben der Zeitung des Groß-Budapester Arbeiterrates beschlagnahmen, und verhinderte mithilfe von 400 Panzern das abhalten eines Gesamtungarischen Rätekongresses. Dennoch brauchte die Kadar-Regierung fast ein ganzes Jahr, bis sie die letzten Arbeiterräte aufgelöst hatte.

Die Möglichkeiten der Revolution

In der ungarischen Revolution 1956 waren die ArbeiterInnen die unter dem Joch des Stalinismus standen, dem Sturz der bürokratischen Kaste, also einer politischen Revolution, so Nahe, wie nie zuvor oder danach in der Geschichte.

Dass es sich nicht um einen faschistischen Aufstand handelte, zeigt sich schon wenn man sieht, dass die Demonstration am 23. Oktober unter dem Banner der internationalen Solidarität stattfand, und zeigt sich auch in den vielen Erklärungen gegen Faschismus und Antisemitismus, die dem Vorwurf schon damals gegenüberstanden.

Natürlich hatte der Aufstand einen starken Aspekt der „Volksbefreiung“ und des Nationalismus. Dieser wurde vor allem von den Intellektuellen und den stalinistischen Reformern betont. Die ArbeiterInnen jedoch wurden durch ihre materielle Lage auf die Straße getrieben und hatten mehrheitlich keine klare politische Perspektive. Es ging den Aufständischen jedoch nie, weder den StudentInnen noch den ArbeiterInnen, um die Abschaffung des sozialistischen Eigentums. So sagte Sandor Racz vom Groß-Budapester Arbeiterrat:

„Die Revolution wurde nicht angezettelt, damit die alten Fabrikanten ihren Besitz zurückbekommen. Die Revolution brach aus, weil wir die Betriebe dem Staat aus der Hand nehmen und gemeinschaftlich verwalten wollten. Wir wollten keinen Kapitalismus. Das muss man mal ganz deutlich sagen!“

Die ArbeiterInnen hatten die stalinistische Partei geradezu weggepustet, sie hatten Räte aufgebaut, und sie zentralisiert, sie hatten eine Art Doppelherrschaft geschaffen, die ihnen deutliches Übergewicht gab. Doch sie erkannten die reformistische Nagy-Regierung an, sie verbündeten sich mit den reformistischen Intellektuellen, sie kamen selbst nicht über eine reformistische Perspektive hinaus.

Was ihnen fehlte war das Bewusstsein, dem bürokratischen Regime den letzten Stoß geben zu müssen. Was fehlte war eine revolutionäre Partei, die für die Perspektive der Rätemacht, für einen Sozialismus der Arbeiterdemokratie kämpft. Ohne eine solche Organisation, ohne einen klaren Bruch mit der (noch so reformfreundlichen) Bürokratie mussten die ungarischen ArbeiterInnen unterliegen. Doch ihr Aufstand hat gezeigt, dass die ArbeiterInnen die Kraft haben, die stalinistische Bürokratie zu stürzen. Nur wenn die ArbeiterInnen die Gesellschaft selbst verwalten, kann man von Sozialismus sprechen.

//von Jalava aus Kreuzberg //REVOLUTION Nr. 21

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