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Ein Präsident auf der Flucht

Im Mai-Juni 1968 herrschte in Frankreich eine revolutionäre Stimmung – der Präsident musste kurzzeitig nach Deutschland fliehen

Beim französischen Kapital sind die Erinnerungen an 1968 noch präsent. Im Gegensatz zu vielen anderen Studentenbewegungen der Zeit, gelang damals den französischen StudentInnen der Brückenschlag zur Arbeiterbewegung. Mehrere Monate lang befand sich Frankreich in einer revolutionären Situation, große Teile der Arbeiterbewegung schlossen sich den StudentInnen an, wilde Streiks, Warnstreiks, Generalstreiks und Massendemonstrationen bestimmten im Frühjahr 1968 die politische Realität Frankreichs.

Ebenso wie die internationale Studentenbewegung waren in Frankreich der Vietnamkrieg und die Zustände an den Universitäten die zentralen Themen der Bewegung. In Frankreich waren während der 60er Jahre viele StudentInnen aus der Arbeiterklasse an die Universitäten gekommen, der Anteil von StudentInnen war der höchste im damaligen Europa. Gleichzeitig herrschte an den Universitäten eine brutale Selektion, 70-75% der StudentInnen mussten ihr Studium abbrechen. Neben dieser Selektion war auch der Arbeitsmarkt auf neue Akademiker nicht vorbereitet.

Die ersten Streiks und Aktionen fanden in der Technischen Universität von Nanterre statt, dort wurden die Vorlesungen gestürmt und Streiks ausgerufen.

Die Besetzung der Sorbonne

In Paris versammelte sich am 3. Mai 1968 zunächst nur der harte Kern der StudentInnen aus Nanterre im Innenhof der Sorbonne – zwar fanden die politischen Reden zunächst wenig Anklang an der Sorbonne, das Eingreifen der Polizei am Ende der Kundgebung schon eher. Die Protestierenden sollten auf das Präsidium abgeführt werden, zur Feststellung ihrer Personalien. Dieser Abtransport sorgte für erste Handgemenge und zu einer Solidarisierung weiterer StudentInnen mit den Protestierenden. Einen besonderen Beitrag leisteten dabei die weiblichen Kommilitonen – sie sollten nicht von der Polizei abgeführt werden, dies nutzten sie um die StudentInnen an der Sorbonne zu mobilisieren.

Die Bereitschaftspolizei, die in den aktuellen Auseinandersetzungen für das Koma von Cyril Ferez verantwortlich ist, griff hart durch und verhaftete in den nächsten Stunden fast jeden jungen Menschen im Umkreis der Sorbonne, der auch nur im Verdacht stand zu den StudentInnen zu gehören.

Später zogen die StudentInnen in einem Protestmarsch zum Senat, die Teilnehmerzahl stieg auf 4500. Am späten Nachmittag kam es dann zu Straßenschlachten in Paris, von Seiten der StudentInnen hatte es keine militanten Provokationen gegeben, seitens der Polizei aber die Bereitschaft, dem Ganzen ein Ende zu machen. Ein Polizist lag seit dem 3. Mai im Koma. Zwischen Tränengas, Schlagstöcken und Pflastersteinen fanden sich in der Demonstrationen verschieden politische Akteure zusammen, von den Anarchisten um Cohn-Bendit, über die Trotzkisten der JCR und den Maoisten ULC, sowie Mitgliedern des nationalen Studentenverbandes UEC.

Trotz vieler theoretischer Differenzen waren sich diese Gruppen in ihrer Zielvorstellung einig, die Proteste sollten nicht an den Unis bleiben, die Arbeiterbewegung und die Migranten sollten gemeinsam mit den StudentInnen in Frankreich das kapitalistische System nicht nur in Frage stellen, sondern am besten stürzen. Daher gingen die StudentInnen in die Betriebe und agitierten für einen gemeinsamen Generalstreik.

Der Generalstreik

In den folgenden Maitagen kam es ganz Frankreich zu Unistreiks. Infolgedessen riefen alle Gewerkschaften zum Generalstreik am 13. Mai auf, nur die stalinistische CGT fehlte – auf die Rolle der Stalinisten wird noch extra eingegangen.

Der Studentenbewegung gelang der Brückenschlag zu den ArbeiterInnen, am 13.Mai kam es zu ersten gemeinsamen Demonstration in Paris. ArbeiterInnen von Renault verfassten damals ein Flugblatt, in dem stand: „Wenn wir wollen, dass unsere Lohnerhöhungen und unsere Forderungen hinsichtlich der Arbeitsbedingungen Erfolg haben, wenn wir nicht wollen, dass sie ständig bedroht sind, dann müssen wir jetzt für eine grundlegende Veränderung in der Gesellschaft kämpfen ... Als ArbeiterInnen sollten wir selbst danach streben, den Gang unserer Unternehmen zu kontrollieren. Unsere Forderungen sind denen der StudentInnen ähnlich. Die Verwaltung der Industrie und die der Universität sollten von denen, die dort arbeiten, auf demokratischem Weg sichergestellt werden.” Die Forderung nach einer Räteherrschaft verband StudentInnen und ArbeiterInnen, in den darauf folgenden Tagen kam es in ganz Frankreich zu wilden Streiks und Besetzungen, bei Renault, in der Flugzeugindustrie, im öffentlichen Dienst...

Diese Bewegung forderte keine Verbesserungen oder Reformen am kapitalistischen System. Hier wurde die revolutionäre Perspektive eingefordert – Räteherrschaft in Fabriken und Unis.

Innerhalb weniger Tage breitete sich diese revolutionäre Streikbewegung in ganz Frankreich aus. Streikten am 17. Mai „nur“ 200 000 Arbeiter­Innen – so waren es eine Woche später schon mehr als 11 Millionen. Von den Anfängen von Nanterre bis zum politischen Generalstreik waren grade mal 2 Monate vergangen. Eine revolutionäre Bewegung von StudentInnen, SchülerInnen und ArbeiterInnen legte das Land lahm und zwang die politische Führung quasi zur Flucht.

Der Verrat der Stalinisten

Der damalige französische Präsident General de Gaulle erkannte anscheinend die Situation im Land und hielt sich ab Ende Mai bevorzugt bei den Französischen Truppen im Nachbarland Deutschland auf. Dort waren mehrere Divisionen stationiert, sie waren die Versicherung des bürgerlichen Systems. In ihnen hatte der Präsident noch eine militärische Alternative. Gleichzeitig begannen in verschiedenen Ministerien die Beamten die Unterlagen zu vernichten, ähnlich einer Firma kurz vor dem Konkurs, ist dies ein Zeichen des nahenden Endes und der Gewissheit, „belastendes“ Material besser nicht in die Hände der Gegner kommen zu lassen.

Dieses Handeln belegt das auch der Staat von einer revolutionären Situation ausging, von Fabrikbesetzungen ist es auch nur ein kleiner Schritt zur Besetzung von staatlichen Institutionen, wie Ministerien und Parlamenten. Allerdings konnte sich der französische Staat auf die KPF und die CGT verlassen, diese stalinistischen Organisationen sahen nämlich keine revolutionäre Situation im Land.

Von Beginn an wurde die Studentenbewegung von den Stalinisten bekämpft, auch als die ArbeiterInnen sich den Protesten anschlossen und der politische Generalstreik auf der Tagesordnung stand, waren die Stalinisten von KPF und CGT die entschiedensten Verteidiger der kapitalistischen Verhältnisse. Selbst als mehr als 11 Millionen ArbeiterInnen streikten sprach die KPF Führung nicht von einer revolutionären Situation. Die StudentInnen wurden als „Unruhestifter“ und „Abendteurer“ verleumdet und auch die Aufrufe an die ArbeiterInnen wurden bekämpft und zurückgehalten. Der Stalinismus offenbarte sein reformistisches Gesicht, der KPF und CGT ging es um Lohnforderungen, die Erhöhung des Mindestlohns etc.- die revolutionäre Situation wurde verleugnet und der eigene Einfluss genutzt um dem bürgerlichen Staat zu dienen.

Im sog. „Abkommen von Grenelle“ verhandelten die Stalinisten eine Erhöhung des staatlichen Mindestlohns, von den Unternehmern wurden sogar 35% in Aussicht gestellt wenn die CGT ihren Einfluss nutzte um die Besetzungen zu beenden. Diese Zugeständnisse von Kapital und Staat wurden von den Stalinisten als große Erfolge gefeiert, wohlwissend das sie nichts dazu beigetragen hatten – allerdings verringerte sich ihr Einfluss, die ArbeiterInnen, z.B. bei Renault wollten diesem „Kompromiss“ nicht folgen und setzten ihren Streik und ihre Besetzung fort. Ab Ende Mai gab es die ersten Versorgungsengpässe, Räte von Beschäftigten organisierten die Energieverteilung – die ersten Schritte zur Übernahme der Produktionsmittel und der öffentlichen Verwaltung waren der revolutionären Bewegung gelungen.

Die Ankündigung von Neuwahlen

Während der bürgerliche Staat also schon begann, seine Akten zu vernichten und die Kontrolle des ökonomischen und öffentlichen Leben in die Hände der Räte überging, waren die Stalinisten treue Vasallen des bürgerlichen Systems. Noch am 27. Mai verleugnete die Führung der KPF eine revolutionäre Situation, sie wollten vor allem „Ruhe und Ordnung“ durch vorgezogene Neuwahlen wieder herstellen. Dies gefiel vor allem dem in Baden-Baden verweilenden Staatspräsidenten De Gaulle.

In einer Ansprache ging De Gaulle auf die Forderung ein, er löste die Nationalversammlung auf und kündigte Neuwahlen für den 23. Juni 1968 an. Gleichzeitig drohte er mit Verhängung des Ausnahmezustands und einem harten Eingreifen der Armee. Dies wurde für den Fall angekündigt, dass die StudentInnen und ArbeiterInnen ihren Streik fortsetzen. Am 30. Mai mobilisierte dann die Rechte in Frankreich 1 Million Demonstranten.

Bei den Wahlen konnten die Gaullisten ihre Mehrheit weiter ausbauen, als Folge dessen wurden zahlreiche politische Gruppen, darunter alle trotzkistischen Gruppen vom Staat verboten.

1968 hat gezeigt, dass die radikale linke Jugend, wenn sie sich mit den ArbeiterInnen zusammenschliesst, den Kapitalismus ins Wanken bringen kann kann. Heute, nach dem Zusammenbruch der stalinistischen Sowjetunion und der fortschreitenden Krise des Kapitalismus haben sich die Vorraussetzungen für uns Revolutionäre verbessert. Wir müssen unsere Konzepte verstärkt propagieren und uns international organisieren. Der Bedarf für eine neue, eine fünfte Internationale ist größer denn je.

//von Lothar aus Kassel //REVOLUTION Nr. 17

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